An dramatischen Höhepunkten im Leben Wolfgang Welschs fehlt es nicht: Er stand in der ehemaligen DDR ganz oben auf der Todesliste des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der allgegenwärtigen Geheimpolizei. Seine Rolle als prominenter Fluchthelfer führte an der Normannenstrasse, dem Hauptsitz des MfS, zu emsiger Betriebsamkeit. Diese gipfelte in der Ausarbeitung des perfiden Vorhabens, ihn zu «liquidieren».
Atemlos gebannt lauschten Oberstufenschüler den Ausführungen Welschs. Er verstand es – gleichsam das Bild der Tabakpfeife mit dem auffälligen gelben Kopf, seines Markenzeichens, fortführend – mit behutsam gesetzten Worten eine ungeheure Spannung aufzubauen. «Seine eindrückliche Sprache erzeugte Gänsehautmomente», meinte denn auch Michelle Tormen aus der G19d. «Der Vortrag Welschs war eine unglaublich eindrückliche Erzählung, welche die geschichtlichen Ereignisse mit einer Natürlichkeit und Authentizität aufleben liess, wie sie so sonst unmöglich zu bekommen ist», pflichtete ihr Klassenkamerad Joèl Frei bei.
1964, gerade 20 Jahre alt, unternahm Welsch selbst einen Fluchtversuch. Zuvor war er an einem Lyrikabend an der Humboldt-Universität in Ostberlin mit aufmüpfigen Gedichten in Ungnade gefallen. «Einige parteitreue Zuhörer» hätten ihn, weil sie sich «provoziert» fühlten, «vom Stuhl heruntergeholt», schreibt er in seinem Bestseller «Ich war Staatsfeind Nr. 1». Jener Versuch scheiterte wegen eines fatalen Fehlers: Welsch gab sich an der Grenze als Bürger der BRD aus, der, begeistert vom Sozialismus, am Deutschlandtreffen teilgenommen habe. Auf die Frage, wo das Einreisepapier – die Bestätigung, dass er die Grenze Richtung Ostberlin durchquert hatte – geblieben sei, antwortete Welsch, dass er den Kontrollpunkt Wartha passiert habe. Was er nicht wissen konnte: Wartha war wegen Bauarbeiten seit drei Monaten geschlossen. Welsch landete im MfS-Untersuchungsgefängnis. Er wurde zu zwei Jahren Haft wegen «illegalen Verlassens der DDR» und «staatsgefährdender Hetze» verurteilt.
Im Hochsicherheitsgefängnis der Stasi führte er minutiös Tagebuch. Der Trick, ohne Schreibzeug Botschaften an Mithäftlinge und die Aussenwelt zu notieren, bestand darin, die abgerissenen, leeren Randstreifen der Parteizeitung «Neues Deutschland» mit Zahnpastaschaum zu bestreichen und zu trocknen. Danach konnte er mit den Spitzen eines abgerissenen und hälftig geknickten Alu-Hemdknopfs auf dem so imprägnierten Papier schreiben. Nach Monaten der Haft und einem ersten Besuch seiner Mutter gelang es ihm die Notizen herauszuschmuggeln. Sie kamen bis zu Amnesty International nach London.
Zeitraffung: Zwischenzeitlich lebte Welsch, vom andern deutschen Staat, der damaligen BRD, 1971 «freigekauft», längst im Westen. Er betätigte sich als erfolgreicher Fluchthelfer, im MfS-Jargon «Krimineller Menschenhändler» (KMH) genannt. Mit dem Flugzeugtrick gelang es ihm, über 200 Ostdeutsche in den Westen auszuschleusen. Ein Kurier übergab den Flüchtlingen in Sofia (Bulgarien) einen echten westdeutschen Pass. Mit säuberlich nachgeahmten Ein- und Ausreisestempeln täuschten sie den Grenzbeamten vor, der Flüchtling sei aus der BRD nach Bulgarien geflogen. Und er reise nun wieder aus, Richtung Bukarest (Rumänien), und setze seine Reise von dort über Belgrad nach Frankfurt am Main fort. Dort erwartete ihn Wolfgang Welsch und übergab ihn den Angehörigen.
«Die Handlanger des Systems bliesen mich zu einem Schreckgespenst auf», so Welsch. Dieser Satz überwölbt als Leitmotiv weitere Lebensstationen. Sie gipfelten zunächst in einem Sprengstoffattenat auf seinen VW Golf, den er leicht verletzt überlebte. «Die Stasi hatten die Autobombe zuvor in Ostberlin an einem Trabant», dem damaligen Volksmobil der DDR, getestet. «Der Trabi hatte eine extreme Leichtbauweise; die Bombe zerfetzte ihn in tausend Stücke», erläuterte Welsch. «Aber die Stasi hatte nicht bedacht, dass der VW viel massiver gebaut war.»
Nach diesem Fehlschlag folgte ein Anschlagversuch des MfS auf der Autobahn M20, Dover-London. Angelockt vom vermeintlichen Freund Peter Haack, der sich bei ihm eingeschmeichelt hatte, in Wirklichkeit aber Stasi-Spitzel (IM) war, reisten sie zu zweit nach England, um antiquarische Möbel zu erwerben. Dieses Mal wartete der wirklich allerbeste Stasi-Scharfschütze auf ihn, der, wie es in später aufgefunden Akten hiess, «auf 100 Meter einer Fliege das linke Auge ausschiessen konnte». Nur weil sich Welsch just im Moment der Schussabgabe nach seiner aus der Hand geglittenen und in den Pedalen des Lieferwagens verhedderten Pfeife bückte, entging er diesem Anschlag. «Rauchen kann Leben retten», kommentierte er schmunzelnd.
Den dritten und letzten Mordanschlag, diesmal auf einem Israeltrip, abermals mit Haack zusammen, überlebte Welsch ebenfalls. Die dem Fluchthelfer von Haack und der diesem als Verstärkung zugeschanzten Stasi-Agentin «Susan» ins Essen gemischte 10-fach tödliche Dosis des geruchs- und geschmacklosen hochgiftigen Thallium spülte er in einer intuitiven Selbsttherapie aus dem Körper. Und zwar nur, weil er extrem viel israelisches Maccabee-Bier trank, denn die Sonne brannte auf der Sinai-Halbinsel nur so runter. Haack hatte bereits den erfolgreichen Abschluss der Operation Skorpion gemeldet und wurde in Ostberlin mit einer Medaille geehrt.
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