Mit fünf Monaten wurde Theresa an eine Familie in Ettiswil vermittelt. Helga und Jakob Lien* konnten keine eigenen Kinder bekommen und adoptierten zwei Töchter, zuerst Susanne, später dann die zwei Jahre jüngere Theresa. Dass sie adoptiert ist, erfährt Theresa erst später. Ihre leibliche Mutter ist Italienerin, doch auch das findet sie erst später heraus. Ihre Kindheit ist von der Gewalt und der Tyrannei der Adoptivmutter Helga geprägt. 2015, im Alter von 50 Jahren, veröffentlichte Theresa ihre Geschichte unter einem Pseudonym. Diesen Dezember, sieben Jahre später, erscheint ihr zweites Buch. Dieses Mal unter ihrem echten Namen.
Theresa hört das Quietschen des Rittiseilis vom Kellerfenster aus. Vielleicht war es nur eine Stunde, vielleicht mehrere. Im Keller verliert Theresa manchmal das Zeitgefühl. Auch wenn sie schon viele Male im Keller gefangen sass, ist die Angst davor nie gesunken. Sie hasst diesen modrigen, kalten Keller, fürchtet sich vor ihm. Traut sie sich, das Licht anzumachen, wird sie von der Adoptivmutter bestraft. Diese zwingt Theresa, ihre kleinen Hände auf die Waschmaschine zu legen, und schlägt mit einem Holzscheit oder der Rute, was immer gerade in der Nähe ist, auf Theresas Finger, bis sie diese nicht mehr spürt.
Liebe und Zuneigung durch die Adoptivmutter erfährt Theresa nicht. Sie ist dazu da, den Haushalt zu machen, zu kochen, zu putzen, im Garten mitzuhelfen. Von morgens früh bis abends spät. Manchmal schafft sie es nicht, die Hausaufgaben zu machen oder pünktlich zur Schule zu kommen. Dann wird sie von den Lehrern getadelt und zu Hause von Helga dafür geschlagen. Als undankbar, hässlich, faul, ein Nichtsnutz bezeichnet sie die Adoptivmutter. Abends kann Theresa dann kaum ein Auge zutun, so weh tut ihr der ganze Körper. Theresa fragt sich oft, warum ihr das passiert, was sie falsch macht, doch darauf erhält sie ein Leben lang keine Antwort.
Die ältere Adoptivschwester Susanne ist Helgas Lieblingskind. Sie wird, anders als Theresa, gut behandelt. Manchmal weigert sich Susanne, eine Arbeit zu verrichten, bestraft wird sie dafür nicht. Oft ist es sogar Theresa, die für Susannes Fehler einstehen muss. Lässt Susanne einen Teller fallen, ist für Helga klar, dass Theresa Schuld gewesen sein muss. In Helgas Welt scheint Theresa die Wurzel allen Übels zu sein.
Jakob, der Adoptivvater, ist nur selten daheim. Er arbeitet bis spät abends, kommt nach Hause, um zu duschen, und verschwindet wieder zu einem seiner vielen Vereine. Theresa versteht nicht, warum er sich nicht für sie einsetzt. Warum er sich nicht für sein Kind stark macht. Erst als Erwachsene weiss Theresa, dass Jakob die Flucht suchte. Denn auch für ihn hat Helga kein gutes Wort übrig. Sie macht ihn klein, beschimpft ihn, nimmt es ihm übel, dass er bei der Arbeit nicht mehr verdient. Täglich macht sie ihn verbal fertig. Jakob ist Helga unterlegen.
Dass sie adoptiert ist, erfährt Theresa zum Zeitpunkt ihrer Firmung. In der Schule müssen zur Vorbereitung alle Kinder ihre Taufkerze mitbringen. In der Kerzenschachtel findet sie einen Zettel, auf dem Zürich als ihr Geburtsort angegeben ist. Zu Hause fragt Theresa ihre Adoptivmutter danach. Helga schaut Theresa einen Moment lang an und sagt schliesslich: «Das ist nun der Dank dafür, dass du hier sein kannst.» Theresa sieht den Schlag nicht kommen. Die Kerze zerbricht, als Helga sie damit zu Boden schlägt.
Der Lehrer bemerkt, wenn Theresa mit einer aufgeschlagenen Lippe oder blauen Flecken zur Schule kommt. Doch dafür findet Helga viele Vorwände. Ihre Tochter sei einfach dumm, schusselig, ein Taugenichts. Sie stolpere viel, laufe Kopf voran in Wände oder falle das Bord hinunter. Von den Nachbarn, die den Tumult mitbekommen, erfährt Theresa keine Hilfe. Als Erwachsene wird einmal eine Ettiswilerin geradeheraus zu ihr sagen: «Es ist ja ein Wunder, dass du noch lebst.» Auf diese Weise wird Theresa erfahren, dass die Schläge innerhalb der vier Wände kein Geheimnis gewesen sind. Man hat im Quartier gewusst, dass Helga eine böse Frau ist. Man hat gewusst, dass es hinter verschlossenen Türen schlimm zu- und hergeht. Aber man hat nur zugeschaut, wie Theresa heute weiss.
Ein erstes Mal etwas Frieden erfährt Theresa nach ihrer Schulzeit. Nach abgebrochener Coiffeurlehre aufgrund einer Allergie reist sie in die Westschweiz, um Französisch zu lernen. Mit drei weiteren Angestellten arbeitet sie in einem Café. Dort merkt sie zum ersten Mal, dass sie doch etwas taugt, dass sie gelobt wird für ihre fleissige Arbeit. Ein völlig neues Gefühl für Theresa. Sie macht ihre Arbeit sogar so gut, dass eines Tages ein Anruf aus dem Tessin kommt, wo ein Wirtepaar sie für eine Sommersaison engagieren möchte. Theresa sagt zu. Die Arbeit im Tessiner Wirtshaus gefällt ihr. Sie verbringt eine strenge, aber schöne Zeit. Hier und da wundert sich Theresa über das Verhalten ihrer Arbeitskollegin, welche oft ein paar Minuten zu spät zur Arbeit erscheint und es mit dem Abrechnen am Ende des Tages nicht so genau nimmt. Das hätte sich Theresa nie getraut. In Locarno lernt sie italienisch, wodurch sie ihrem Wunsch, Kondukteurin zu werden, einen Schritt näher kommt. Mit den neuen Italienischkenntnissen besteht sie schliesslich die Kondukteurenprüfung.
Theresa wäre gerne länger im Tessin geblieben, doch Helga lässt das nicht zu. Zurück in Ettiswil arbeitet Theresa in der Schuhfabrik «Reichle», für die auch Helga Heimarbeiten erledigt. Helga schimpft mit Theresa, dass sie froh sein könne, hätte sie ihr diesen Job besorgt. Ihren Kondukteuren-traum darf Theresa nicht verwirklichen.
Mit 19 wird Theresa schwanger. Der Kindsvater will nichts mit dem Baby zu tun haben. Die Geburt ihrer Tochter Franziska ist für Theresa wie ein Segen. Doch da Theresa – nach damaligem Recht – noch nicht 20 und damit volljährig ist, bekommt ihre Tochter einen vorübergehenden Vormund. Da Theresa keine finanziellen Rücklagen hat, bleibt sie zu Hause wohnen. Dort reisst Helga das Kind an sich, «entfremdet» es von ihr, wie Theresa schildert. Sie arbeitet hart, neben der Arbeit in der Schuhfabrik babysittet Theresa zwei Mal die Woche Nachbarskinder und macht samstags die Haare der Nachbarsfrau. Sobald Theresa zu Hause zur Tür hereinkommt, nimmt Helga ihr das verdiente Geld ab.
Als ihre Tochter zwei Jahre alt ist, zieht Theresa in einer Nacht- und Nebelaktion von zu Hause aus. Der Götti ihrer Tochter hilft ihr dabei. Hätte Helga davon gewusst, hätte sie Theresa aufgehalten. Sie findet eine Familie in Grosswangen, die sich um ihre Tochter kümmert, während sie bei der Arbeit ist. Am Wochenende kann sie die Zeit mit ihrer Tochter geniessen. Doch der physische Abstand hält Helga nicht auf. Sie taucht jeweils unerwartet vor Theresas Haustür auf und verlangt Franziska zu sehen, droht ihr damit, ihr das Kind wegnehmen zu lassen. Theresa klärt mit dem ehemaligem Vormund ab, ob die Adoptivmutter ein Recht darauf habe, Franziska zu besuchen. Dieser meint, sie solle Helga hie und da gewähren lassen, um diese zu beschwichtigen. Doch jedes Mal, wenn Theresa mit ihrer Tochter die Adoptiveltern besucht, artet es aus.
Mit anfangs 20 lernt Theresa Dieter kennen. Sie fürchtet, dass er sich nicht für sie interessieren könnte, da sie bereits ein Kind hat. Schliesslich hat ihr die Adoptivmutter immer wieder weisgemacht, dass sie dankbar sein muss, wenn sich je wieder ein Mann für sie interessieren sollte. Doch Dieter interessiert sich für Theresa. Er verspricht ihr und ihrer Tochter den Himmel auf Erden. Die beiden heiraten und kriegen eine gemeinsame Tochter Luzia. Theresa zieht mit Dieter nach Dagmersellen, später beziehen die beiden ein Einfamilienhaus in Sursee.
Ungefähr zwei Jahre nach der Hochzeit fängt Dieter an, sein wahres Gesicht zu zeigen. Er ist jähzornig, wird schnell wütend. Er attackiert Theresa verbal und physisch. Auch den Kindern gegenüber zeigt er nur wenig Geduld. Als Tochter Luzia in der Trotzphase ist und sich weigert, die Zähne zu putzen, greift er sich die Zahnbürste und erledigt es mit Gewalt.
Besonders in Erinnerung bleibt Theresa der Tag, als sie mit Dieter eine Wanderung in die Berge unternimmt. Er fragt Theresa, ob sie sich noch per Handy von ihren Töchtern verabschieden wolle. Theresa traut sich nicht zu fragen, was er damit meint. Dieter drängt Theresa auf einen abgeschotteten Wanderweg und zwingt sie, am äussersten Rand direkt neben dem steilen Hang zu gehen. Er fragt sie, ob sie Angst habe, zu fallen. Als sie stolpert, kann sie sich gerade noch an seinem Arm festhalten. Dieter schüttelt sie ab und Theresa fällt zu Boden.
Dieter könnte ein Pfarrer sein, sagen Aussenstehende immer wieder zu Theresa. Er sei so ein lieber Mann. Dieter hat Charisma und weiss, wie er mit den Leuten reden muss. Umso mehr Theresa klar wird, was für ein falsches Bild die Menschen von Dieter haben, desto stärker macht sich in ihr das dumpfe Gefühl breit, dass sie keine Chance hat. Dieses Bild würde sie nicht brechen können.
Auch die Schwiegermutter ist Theresa nicht gut gesinnt. Denn sie findet, dass Theresa nicht gut genug für Dieter ist. Die Schwiegermutter erinnert stark an Helga. Möchten Freunde oder Bekannte Theresa besuchen, wimmelt die Schwiegermutter sie unten an der Tür ab, bis sie irgendwann nicht mehr vorbeikommen.
Zwölf Jahre sind Theresa und Dieter verheiratet. Im Jahr 2000, Theresa ist 35 Jahre alt, folgt die Scheidung. Das Gericht verhängt ein Besuchsverbot, Dieter darf seine Tochter Luzia zwei Jahre lang nicht kontaktieren. Doch das Leben wird für Theresa und die Kinder nicht einfacher. Dieter räumt alle Sparkonten leer, Theresa steht mit nichts da. Dabei belässt er es aber nicht. Er lässt im Einfamilienhaus in Sursee Wasser, Heizung, Strom und Telefon abstellen. Theresa hat keine andere Wahl, als all ihre Sachen zu packen und mit den Kindern umzuziehen. Existenzängste plagen sie, die Alimente muss sie über ein Inkasso-Unternehmen einfordern. Zwischenzeitlich zieht Theresa mit den Kindern nach Mauensee und Kriens. Aber auch so lässt sich ihr Ex-Mann nicht vollständig abschütteln. Genauso wie die Adoptivmutter Helga terrorisiert er Theresa noch über Jahre hinweg.
Noch heute spĂĽrt Theresa die Nachwirkungen der Vergangenheit. Das Haus verlässt sie nur wenig, eine gute Kollegin unterstĂĽtzt sie bei Einkäufen oder sonstigen Angelegenheiten, Menschenmassen meidet sie. Mit ihrer Kollegin geht sie ab und zu auch einen Kaffee trinken oder auf AusflĂĽge. Wohl fĂĽhlt sie sich bei Spaziergängen in der Natur. «Dort kann ich atmen», erklärt sie. 2016 entscheidet sie sich, ihr erstes Buch zu schreiben. Eine Bekannte meint zu ihr, dass, wenn sie alles aufschreibt und es dann verbrennt, wĂĽrde sich etwas in ihr lösen. Doch dem war nicht so. Theresa schreibt alles noch einmal auf und lässt es zu einem Buch fassen. Sie tauft es «Schweigen ist kein Weg». Sie will ansprechen, was ihr widerfahren ist. Was ihr passiert ist, soll niemand anderem widerfahren. Diesen Monat veröffentlicht sie ihr zweites Buch. Dieses Mal unter ihrem richtigen Namen.  Noch heute spĂĽrt Theresa die Nachwirkungen der Vergangenheit. Das Haus verlässt sie nur wenig, eine gute Kollegin unterstĂĽtzt sie bei Einkäufen oder sonstigen Angelegenheiten, Menschenmassen meidet sie. Mit ihrer Kollegin geht sie ab und zu auch einen Kaffee trinken oder auf AusflĂĽge. Wohl fĂĽhlt sie sich bei Spaziergängen in der Natur. «Dort kann ich atmen», erklärt sie. 2016 entscheidet sie sich, ihr erstes Buch zu schreiben. Eine Bekannte meint zu ihr, dass, wenn sie alles aufschreibt und es dann verbrennt, wĂĽrde sich etwas in ihr lösen. Doch dem war nicht so. Theresa schreibt alles noch einmal auf und lässt es zu einem Buch fassen. Sie tauft es «Schweigen ist kein Weg». Sie will ansprechen, was ihr widerfahren ist. Was ihr passiert ist, soll niemand anderem widerfahren. Diesen Monat veröffentlicht sie ihr zweites Buch. Dieses Mal unter ihrem richtigen Namen. Â
*Die Namen der Beteiligten wurden geändert.
Die Bücher «Schweigen ist kein Weg!» Teil 1 und 2 von Theresa Bernet sind auf der Website www.gisler1843.ch/shop erhältlich. Sie können auch telefonisch unter 041 874 18 43 oder per Mail an info@gisler1843.ch bestellt werden.
Mit dieser Frau kann man nicht reden. Sie hat mich mundtot gemacht. Ich durfte sie nichts fragen oder ihr irgendetwas sagen. Ich hatte ruhig zu sein. Manchmal traute ich mich kaum zu atmen. Ich dachte, wenn sie das hört, schlägt sie mich wieder.
Ich habe meine Adoptiveltern nicht mehr besucht. Ich hätte ihn gern besucht, doch dann hätte ich auch Helga sehen müssen. Im vergangenen Jahr habe ich ihn im Spital besucht, als er im Sterben lag. Für mich war es ganz wichtig, dass er wusste, dass es nicht an ihm gelegen hat, dass ich nicht mehr zu Besuch kam. Er war ein guter Mensch, doch er hat sich durch Helga verändert. Er musste einfach, sonst hätte er nicht mehr existieren können.
Diese Frage ist eine ganz logische Folgerung. Aber wissen Sie, ich habe nichts anderes gekannt. Das klingt vielleicht blöd, aber für mich war es selbstverständlich, dass man mich schlägt. Das gehörte einfach dazu. Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen, es jemandem zu erzählen. Ich traute mich nicht. Da war eine immens grosse Angst in mir. Irgendwann kannst du nicht mehr denken, du funktionierst nur noch. Du hast keine Kraft mehr. Und doch hat man immer diese Hoffnung, dass es irgendwann aufhört. Aber das ist ein ganz naives Denken.
Das ist auch eine normale Folgerung, doch falsch überlegt. Hoffnung ist gut. Aber nicht die Hoffnung, dass es besser wird. Weil jemand, der zuschlägt, der hört nicht plötzlich auf damit. Das musste ich mit den Jahren lernen. Auch durch die Therapie, die ich gemacht habe. Deswegen ist es eine Illusion, wenn man zu sich sagt: «So, ich reisse mich jetzt zusammen und mache alles zu 100 Prozent richtig, dann wird alles besser.» Denn der Mensch wird nicht aufhören, er kann nicht anders.
Ja. Ich mache mir heute noch Vorwürfe dafür. Ich hätte ihnen vieles ersparen können. Aber ich hatte keine Kraft mehr. Ich traute mich nicht. Ich wusste nicht wohin, ich hatte ja nichts.
Bei meinem ersten Buch traute ich mich nicht, mit meinem Namen hinzustehen, mich zu outen und zu sagen: Mir ist das passiert. Für mich war das ein langer Prozess, zuzugeben, dass mir das widerfahren ist. Heute kann ich dazu stehen. Ich denke, dass ist ein wichtiger Schritt für alle, die so was erlebt haben. Nichts mehr zu verheimlichen und niemanden mehr zu schützen, indem man schweigt. Durch Schweigen schützt man nur die anderen. Man tut ihnen einen Gefallen. Ich klage niemanden an, aber die Zeit ist reif, zu erzählen, wie es war.
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