Guido Graf, Sie stehen als Gesundheitsminister des Kantons Luzern wegen Corona seit rund zehn Monaten unter permanentem Druck. Wie haben Sie es mit dem Schlafen?
Im Sommer habe ich sicherlich besser geschlafen als jetzt. Da hatten wir das Gefühl, wir würden das Ganze noch besser in den Griff bekommen. Doch die jetzige zweite Welle macht mir grosse Sorgen. Sie ist deutlich härter und ausgeprägter als die erste. Das zeigt sich bei der Auslastung der Spitäler und tagtäglich in der Zeitung mit den Todesanzeigen. Das beschäftigt mich. Über das Wochenende hatten wir zwölf Todesfälle im Kanton Luzern, und die Mitarbeitenden in den Spitälern sind wirklich am Anschlag.
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Wo lag bisher Ihre grösste Herausforderung?
Beim Durchhaltevermögen. Die Menschen sind müde geworden. Das stelle ich in den Spitälern, aber auch beim Gesundheitswesen ganz generell fest. Wobei ich auch sagen darf: Die Zusammenarbeit in der Regierung ist sehr konstruktiv. Sie gibt mir Handlungsfreiheit.
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Wie gross sind Ihre Sorgen wegen der hohen Auslastung in den Spitälern?
Hier ist jetzt die Politik gefragt, dass sie kluge oder mutige Entscheide trifft. Was wir uns keinesfalls leisten dürfen, ist, dass das Gesundheitswesen nicht mehr funktioniert. Denn es gibt nicht nur Corona, sondern auch noch andere schwierige Fälle, die zu behandeln sind. Damit müssen wir gescheit umgehen, ansonsten haben wir ein gröberes Problem.
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«Was mich aber erstaunt: Das Einfache können wir nicht mehr.»
Haben die Spitäler noch «Luft» respektive freie Kapazitäten?
Sagen wir es so: Einen Schwerstunfall können wir aufnehmen. Während sich im Frühling die Diskussionen um die Beatmungsgeräte drehten, sind es nun die personellen Ressourcen und die Betten auf den Intensivstationen, die IPS-Plätze. Das geht soweit, dass gewisse OPs schliessen mussten, damit genug Personal für die IPS-Abteilungen zur Verfügung steht.
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Die zweite Welle hat massiv mehr Fälle als die erste. Wo sind die Gründe hierfür?
Bei der ersten Welle betraf es vor allem Grenzkantone wie zum Beispiel den Tessin, Basel-Stadt oder Genf. Mit Blick auf die zweite Welle hatten wir es in der Deutschschweiz lange im Griff. Dann wurden wir allerdings aufgrund des exponentiellen Wachstums der Fallzahlen ĂĽberschwappt. Wir hatten zwar gewisse Erfahrungen aus der ersten Welle, zum Beispiel was die Behandlung betrifft. Aber das Virus ging ja nie weg. Es war und ist permanent da.
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Die Fallzahlen steigen weiter an. Der Kanton Luzern hat die Massnahmen gegen das Virus nochmals verschärft. Die Wirkung ist aber bisher ausgeblieben.
Die Schutzkonzepte, beispielsweise bei den Restaurants oder bei den Skiliften, sind gut und funktionieren. Das reicht aber nicht mehr. Darum diese erneute Verschärfung. Wir müssen es schaffen, dass sich weniger Leute treffen, die Kontakte reduziert werden. Im Moment kann ich es auch nicht verantworten, dass mehrere tausend Personen beim Wintersport im Raum Entlebuch sind. Wir haben uns ebenfalls überlegt, ob wir den öV reduzieren sollen. Das geht nicht. Daher unsere starke Empfehlung fürs Homeoffice.
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Für die Schliessung der Skipisten hagelt es momentan Kritik. Es heisst: Der Entscheid sei unvorbereitet und unverhältnismässig, zudem hangen wirtschaftliche Existenzen daran. Was sagen Sie dazu?
Wir haben die Entwicklung in den vergangenen Wochen sehr genau verfolgt. Die Skiorte haben ganz viel für ihre Schutzkonzepte gemacht. Daran liegt es keineswegs. Natürlich weiss ich auch nicht, wie viele Skiunfälle passieren würden, wären die Anlagen offen. Aber wir können einfach nicht zusätzliche Unfallpatienten, die dann möglicherweise auf der IPS landen, bei der aktuellen Situation in Kauf nehmen. Dieses Risiko versuche ich möglichst zu minimieren.
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Bei der ersten Welle gab es mehr Fälle in der Stadt und Agglomeration. Jetzt hat eine Verlagerung auf die Landschaft stattgefunden.
Die Landschaft ist gefordert. Das Entlebuch war lange in einer schwierigen Phase. Dort hat man reagiert. Jetzt gibt es in Willisau und Sursee mehr Fälle. Momentan legen wir unsere Informationen auf die einzelnen Bezirke. Was wir auch feststellen: Aktuell liegt die Ansteckung eher bei den Älteren und so tendenziell auf der Landschaft. Nun beginnt es aber zu drehen, in Richtung 20-bis 40-Jährige, womit es eher das Gebiet Stadt/Agglo trifft. Ein Unterschied von der ersten zur zweiten Welle ist auch: Das Virus ist uns näher. Es bekommt ein Gesicht, weil es Menschen trifft, die wir kennen.
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Abstand halten, Masken tragen, unnötige Reisen vermeiden, die Kontakte minimieren sind die Appelle: Trotzdem gehen die Zahlen nicht zurück. Werden diese Massnahmen zu wenig ernst genommen?
Das sind relativ einfache Massnahmen. Was mich aber erstaunt: Das Einfache können wir nicht mehr. Hingegen alles, was hochkomplex und prozessorientiert ist, da sind wir extrem stark. Es gab sogar mal eine Phase, da mussten wir Kindern beibringen, wie sie Hände waschen sollen. Das Problem ist auch: Man sieht das Virus nicht. Wenn hingegen jemand das Bein gebrochen hat, stellt man das sofort fest.
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Heisst das auch, die Menschen sind weiter fĂĽr das Virus zu sensibilisieren?
Wenn ich das Verhalten der Menschen sehe, ist es nicht nur das Virus, das uns den Takt vorgibt. Vor allem wir sind es mit unserem Verhalten. Ich muss aber auch sagen: Es gab eine Zeit, da wurde das Virus unterschätzt. Fakt ist: Es hat eine extreme Wirkung. 10 bis 12 Prozent der Infizierten müssen ins Spital. Davon kommen 10 bis 15 Prozent in eine IPS. Dort dauert es unter Umständen drei bis fünf Wochen, bis man wieder rauskommt. Das ist eine lange, strenge Zeit. Des Weiteren gibt es Langzeitfolgen, die wir heute gar noch nicht abschätzen können.
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Im Sommer waren die Zahlen tief. Jetzt sieht sich die Regierung mit dem Vorwurf konfrontiert, sie hätte mit Blick auf eine eventuelle zweite Welle zu wenig gemacht.
Wir – das heisst ich als Departementsvorsteher und mein Departement – haben den ganzen Sommer intensiv genutzt, um verschiedene Szenarien vorzubereiten. Beispielsweise wie wir bei einem Ausbruch in einem Altersheim, einem Mehrfamilienhaus oder einem Ferienlager reagieren würden. Auch ein Wiederaufbau des Medical Centers in Nottwil oder die Impfversorgung wurden vorbereitet. Der kantonale Führungsstab kann jetzt nur die entsprechende Schublade ziehen und auf die Unterlagen zugreifen.
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Swiss Medic hat den Impfstoff von Pfizer/Biontech in der Schweiz zugelassen. Wie geht es nun weiter – welche Strategie fährt der Kanton Luzern?
Wir planen diverse Impfzentren im Kanton Luzern und starten jetzt als erstes mit einem Zentrum in der Messe Luzern. Weitere Zentren sind je nach Situation in den Räumen Sursee/Nottwil, Willisau/Entlebuch und Hochdorf vorgesehen. Die Menschen in den Altersheimen werden zuerst geimpft. Dazu gibt es mobile Teams, die vor Ort gehen. Weiter müssen sich Menschen, die in Wohnungen leben und nicht mehr mobil sind, zum Impfen melden können. Hierfür haben wir auch eine Lösung bereit.
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Wie viele Menschen im Kanton Luzern, schätzen Sie, werden sich impfen lassen?
Ich musste dem Bund eine Zahl melden und habe diese auf 250'000 Personen geschätzt. Das sind etwas mehr als 60 Prozent der Bevölkerung. Wer sich impfen lässt, wird dies zweimal machen müssen. Dazu benötige ich natürlich das entsprechende Impfmaterial. Am Anfang wird uns relativ wenig Impfstoff geliefert, im März, April und Mai dann mehr.
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«Ich muss mir den Vorwurf gefallen lassen, ich hätte das früher merken sollen.»
Wann beginnt in Luzern das Impfen?
Nach der Zulassung von Swiss Medic liegt der Ball nun beim Bund. Sobald ich einen Impfstoff habe, beginnen wir mit dem Impfen – der Start war am 23. Dezember. Ich will, dass sich jene Menschen, die sich impfen lassen wollen, sich möglichst schnell impfen lassen können. Den Takt geben die Anzahl Impfdosen vor, die der Kanton Luzern vom Bund zugeteilt bekommt.
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Das Contact Tracing stand in den letzten Monaten auch immer wieder in der Kritik. Mit der zweiten Welle und viel höheren Fallzahlen noch mehr. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
Der Bund hat uns im Sommer dahingehend informiert, dass wir uns auf 100 angesteckte Personen pro Tag schweizweit vorbereiten sollen. Das machten wir in einer Phase mit der Lungenliga. Dann kam es gegen Herbst und Winter zu zahlenmässig viel grösseren Ausbrüchen. Die Lungenliga musste ihre Ressourcen für Schwyz und Zug einsetzen und dadurch fehlten uns diese. Ich muss mir den Vorwurf gefallen lassen, ich hätte das früher merken sollen. Wir haben dann selber Leute hierfür eingestellt und geschult. Mittlerweile stehen mir 50 Personen zur Verfügung, und die Qualität des CT hat sich merklich verbessert.
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Worin liegen die grossen Herausforderungen beim Contact Tracing?
Wir haben Herausforderungen, keine Frage. Beispielsweise, ob die angegebenen Telefonnummern stimmen oder ob wir die Leute überhaupt telefonisch erreichen können. Weiter muss man die Bürger animieren, die SwissCovid-App runterzuladen und sie muss funktionieren. Die Umsetzung ist hochanspruchsvoll. Ich muss aber auch sagen, vielleicht haben wir es kommunikativ nicht wirklich geschickt gemacht.
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Erwiesenermassen sind Pflegeheime Hotspots. Wie ist die Situation dort?
Wir hatten gegen Ende Oktober das Kurhaus Seeblick in Weggis, wo das Virus Gäste und Mitarbeiter traf. Daraufhin verhängte ich für eine Woche ein Besuchsverbot in den Pflegeheimen und habe ihnen gesagt, sie sollen die Schutzkonzepte anschauen und die Leute instruieren. Das hatte teils heftige Kritik zur Folge. Was dazu aber auch zu sagen ist: Die Pflegeheime verfügen über entsprechende Konzepte.
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Kritik und Unverständnis kamen vor allem von Angehörigen, die ihre Liebsten, die teilweise im Sterben lagen oder an Demenz leiden, nicht mehr besuchen durften.
Das ist wirklich eine schwierige Situation für die Betroffenen, für die ich volles Verständnis habe. Wenn jemand das gewohnte soziale Umfeld plötzlich nicht mehr hat, leiden diese Menschen. Nach dem Besuchsverbot versuchten wir mit zwei Besuchern pro Tag einen Mittelweg zu suchen. Das ist aber eine extreme Gratwanderung. Die Situation mit den Pflegeheimen war und ist anspruchsvoll. Was ich aber gar nicht verstehe: Es gab diverse Voten, auch von Bundesparlamentariern, deren Inhalt beispielsweise war, dass jemand, der achtzig Jahre alt sei, ja sterben könne. Das ist für mich keine Aussage mit der ich etwas anfangen kann. Für mich schwingt hier Arroganz mit. Das war nämlich jene Generation, die dieses Land mit aufgebaut und wirtschaftlich stark gemacht hat. Natürlich gehört der Tod zum Leben. Doch das ist für mich überhaupt kein Grund, nicht zu diesen Menschen zu schauen.
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Zu Diskussionen gibt auch Anlass, dass einmal der Kanton im Lead ist, dann wieder der Bund. Oft wird die ungenügende Kommunikation bemängelt. Wie nehmen sie diesen Vorwurf wahr?
Ich bin im Vorstand der Gesundheitsdirektoren Schweiz und Präsident der Gesundheitsförderung Schweiz und habe mit Bundesrat Alain Berset viel zu tun. Ich erlebe die Zusammenarbeit nicht als so schlecht, wie sie teilweise dargestellt wird. Die Situation ist für alle Beteiligten neu und anspruchsvoll.
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Ist das eine Folge des Föderalismus?
Wer sich etwas mit der Geschichte befasst, weiss: Unser Föderalismus war keine Liebesheirat. Wenn Kantone eine eigene, andere Meinung haben, muss man das akzeptieren. Ich habe aber Mühe, wenn Kantonsregierungen zu wenig gemacht haben und dann den Bund auffordern: Mach du. Ein Beispiel: Im Sommer sagte Bundesrat Berset: Hört Leute, jetzt kommt das Skifahren. Wollen wir das zentral regeln? Da sagten einige Kantone: Sicher nicht. Und jetzt gibt es Kantone, die extrem froh wären, wenn der Bund das bestimmen würde.
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Gibt es Dinge, die Sie heute anders machen wĂĽrden?
Was mir extrem imponiert hat, ist der kantonale FĂĽhrungsstab. Ich selber habe auch nicht alles gut gemacht. Was ich mir sicher ĂĽberlege: Ich habe eine Departements-Organisation, die man ernst nehmen muss. Das gilt es jetzt zu analysieren. Klar ist: Das Gesundheitswesen wird eine ganz neue Aufgabe erhalten.
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«Ambulant vor stationär»: In die Richtung hat sich das Gesundheitswesen noch vor Corona bewegt. Sie sind ein Verfechter dieser Strategie. Hat sie für Sie noch weiterhin Gültigkeit?
Ja. Vielerorts passierte die Umsetzung von «ambulant vor stationär» aber so, als ob es nur noch ambulant gäbe. Das ist falsch. Für mich gibt es ambulant und stationär. Das habe ich nicht nur immer gesagt, sondern ich denke auch so. Mit der jetzigen Situation hat stationär wieder eine andere Bedeutung bekommen. Das ist richtig und wichtig. Die aktuelle Situation zeigt mir jedoch: Es braucht nicht nur die entsprechenden Betten, sondern auch das Personal.
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Wirtschaft und/oder Gesundheit: DarĂĽber wird sehr heftig debattiert. Wie stehen Sie dazu?
Die Regierung ist sich einig: Wirtschaft und Gesundheit gehören zusammen. Es gibt Menschen, die eine Gesundheitsversorgung benötigen, diese sind aber auch darauf angewiesen, dass sie einer Arbeit nachgehen können. Sobald es vertretbar ist, muss die Wirtschaft wieder hochgefahren werden. Ich als Gesundheitsdirektor wünsche mir so viel Sicherheit, dass ich es mit Blick auf die Gesundheit schaffe, durch diese Krise zu kommen.
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Wie beurteilen Sie die Arbeit der Medien als «vierte Staatsgewalt» in der Coronazeit?
Ich spüre natürlich, dass die Medien ebenfalls Druck haben. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass sie mehr beruhigt hätten. Das hätte geholfen, die Situation besser zu überstehen. Manchmal fehlte mir eine gewisse Ausgewogenheit. Und die deutlichen Worte hätte man auch etwas behutsamer wählen können. Doch es ist halt auch so: Wer medial mehr Gas gibt, ist präsenter. Allerdings ist es richtig, dass man kritisch hinschaut, wer was vielleicht nicht so gut gemacht hat. Sicherlich nicht glücklich war, dass das Hin und Her zwischen der Science-Task-Force und dem Bundesrat öffentlich ausgetragen wurde.
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Was war fĂĽr Sie der schwierigste Moment in den vergangenen zehn Monaten?
(Überlegt) Ich kenne Personen, die gestorben sind. Ich habe auch Menschen aus meinem Umfeld verloren und erlebte Kinder, die mich fragten, weshalb ein Elternteil sterben musste. Es gab Leute, die mich baten, den Beschluss im Altersheim zu lockern, damit sie ihre Mutter oder ihren Vater noch besuchen dürften, die im Sterben lagen. Menschen schrieben mir, sie müssten ihren Tumor operieren lassen, um weiterleben zu können. Ich erlebte viele berührende Momente, die mir bis heute nachgehen.
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Weihnachten steht bevor. Wie feiert der Gesundheitsdirektor dieses Fest der Liebe und der Familie?
Ich werde Weihnachten im kleinen Kreis begehen. Wir haben drei Kinder. Diese kommen etappiert nach Hause. Um grösser zu feiern, müssen wir warten, bis geimpft ist. Ich werde mich selbstverständlich impfen lassen. Und es gilt nun bis in den Sommer/Herbst 2021 durchzuhalten und zu hoffen, dass wir dann wieder etwas normaler leben können.
Sie können Ihre Traueranzeige in Ruhe von zu Hause aus gestalten und aufgegeben. Es stehen Ihnen Muster, Hintergründe und Bilder zur Verfügung.
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