Man stelle sich vor: Am 8. Februar 1857 ging der Sempacher Pfarrer Joseph Bölsterli über den zugefrorenen Sempachersee, und noch am 14. März desselben Jahres sah er «einen Mann sicheren Schritts» auf dem See nach Nottwil gehen. Von diesem seltenen Zeugenbericht schrieb der Sempacher Stadtarchivar André Heinzer vor acht Jahren in einer Botschaft zuhanden der Gemeindeversammlung. Das Ganze ereignete sich nur wenig mehr als ein halbes Jahr nachdem der erste Eisenbahnzug zwischen Sempach Station und Nottwil gefahren war. Wie Heinzer weiter ausführte, war eine Sempacher «Seegfrörni» im 19. Jahrhundert «eher die Regel als die Ausnahme». Kleinere Alpenrandseen seien derart häufig überfroren, dass sich die Chronistik kaum mehr darüber verloren habe.
Wursthüpfen auf dem Eis
«Seegfrörnen» traten verschiedentlich auch im 20. Jahrhundert auf – zumindest in den ersten zwei Dritteln. So bescherte im Februar 1914, in der Klimageschichte eigentlich nicht als ausserordentlich kalter Monat bekannt, eine «Gfrörni» den Sempachern ein Eisfest auf dem See. Unter anderem organisierte der Verkehrsverein einen Schlittschuhreigen, ein Velo-Langsamfahren und das «bei Klein und Gross besonders beliebte Wursthüpfen» – das Ganze musikalisch umrahmt von der Musikgesellschaft Harmonie.
Für Spektakel sorgten die «Seegfrörnen» auch am anderen Ende des Sempachersees, in Sursee. Wie Judith Schütz vom Stadtarchiv Sursee vor elf Jahren recherchierte, war dies beispielsweise im Winter 1917/18, als der Erste Weltkrieg noch voll im Gange war, der Fall. Nach einigen Tagen mit bis zu minus 21 Grad Celsius fror der See für einige Zeit zu. Die «Seegfrörni» bot den Menschen eine willkommene Abwechslung zum schwierigen Alltag der Kriegszeit. Auf einer Fotografie vom Triechter, entstanden am Neujahrstag 1918, sind verschiedene vergnügliche Aktivitäten der Surseer auf dem Eis zu erkennen: Schlitteln, Schlittschuhlaufen, Spazieren – und auch die Hunde durften mit. Eine Gruppe liess es sich nicht nehmen, bei einem gut gekühlten Bier einen gemütlichen Jass zu klopfen.
Unglücke gab es auch
Im Februar/März 1929 gab es eine weitere «Seegfrörni». Gemäss Heinzer befanden sich damals auf dem vereisten See viele Leute mit Auto, Töff, Velo, Schlitten und Schlittschuhen. Angesichts der fortgeschrittenen Jahreszeit mahnte die «Sempacher Zeitung» aber zur Vorsicht: «Der Zauber der ‘Seegfrörni’ kann gefährlich werden. Hoffen wir, dass der See kein Opfer fordert.» Genau das war indessen bei der erwähnten «Gfrörni» im Jahr 1918 passiert. Der «Luzerner Landbote» berichtete am 8. Januar über den tragischen Tod von vier jungen Burschen. Sie waren mit den Schlittschuhen nach Sempach gefahren und auf dem Rückweg beim Überqueren einer zu dünnen Eisdecke eingebrochen und ertrunken. In einem drei Wochen später veröffentlichten Gedicht wurde verzweifelt gefragt: «Warum bist du so grausam, du tückischer See, und gibst uns die Söhne nicht wieder? Als ein wüster fürchterlich’ Hai verschlangst vier Jünglinge und zogst sie hernieder.»
Fahrzeuge drohten einzubrechen
In den Jahren des Zweiten Weltkriegs hatte die «Seegfrörni» bereits den Nimbus von etwas Aussergewöhnlichem. In Sempach ist folgendes Selbstzeugnis einer Frau überliefert: «Einmal war sogar der See zugefroren. Mit Lehrer Steger kuften wir auf die andere Seeseite.» Zugetragen hatte sich dies wohl Ende Januar/Anfang Februar 1942. Am 23. Januar vermeldete die «Sempacher Zeitung» nämlich: «Nun ist auch der Sempachersee gänzlich zugefroren.»
Den strengsten Winter des vergangenen Jahrhunderts dürfte es in der Schweiz 1962/63 gegeben haben. Damals waren verschiedene Seen, unter ihnen sogar der Zürichsee und der Bodensee, aber auch Fliessgewässer wie der mittlere Aarelauf zugefroren. Am 9. Februar verbreitete die «Sempacher Zeitung» ein Communiqué des Polizeikommandos, wonach im Kanton Luzern mit Ausnahme des Vierwaldstättersees alle Seen zugefroren seien. Betreten und Befahren der Eisflächen seien grundsätzlich unbedenklich, doch dürfe das Eis unter Strafe nicht mit Motorfahrzeugen oder Tierfuhrwerken befahren werden. Dass dieses Verbot durchaus nicht an den Haaren herbeigezogen war, zeigte sich, als am 30. Januar 1963 im Hallwilersee etwa 60 Meter vom Ufer entfernt ein Lastwagen einbrach. Laut dem «Aargauer Tagblatt» riss das Drahtseil beim Versuch, den tonnenschweren Lastwagen zu heben.
Ein «Auslaufmodell»
Seither gab es keine weiteren «Seegfrörnen» des ganzen Sempachersees mehr, und angesichts der Klimaerwärmung dürften sie wohl auch in absehbarer Zukunft ausbleiben. Die Chancen einer «Gfrörni» sind nur noch bei kleineren, wenig tiefen Seen beziehungsweise Seeteilen intakt – so etwa beim Mauensee, der in den Jahren 2006, 2012 und 2017 letztmals zufror. Beim Triechter in Sursee war dies 2012 der Fall.
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