Die Sonne scheint durch die Balkontüre in mein Homeoffice. Mein Blick schweift hinaus über mattgrüne Wiesen. Es könnte glatt Ferienstimmung aufkommen, doch liegen solche Gedanken momentan fern. Ich erinnere mich an die Medienkonferenz vom 14. März, als der Bundesrat weitreichende Einschränkungen wegen des Coronavirus beschloss und unter anderem Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen verbot. Nur zwei Tage später waren es noch fünf Personen und der Lockdown begann. Die damaligen Tage hatten einen dystopischen Anstrich, etwas noch nie Erlebtes mit ungewissem Ausgang geschah gerade. Wie sollte ich mich fortan verhalten? Welches ist der richtige Weg, um mich und andere vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen? Wie gefährlich ist das Ding eigentlich?
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Virus wĂĽtet auch im Kopf
Die Zahlen der Neuinfektionen bewegten sich damals zwischen knapp 300 und gut 500 Fällen pro Tag. Die Zahl der täglich neu gemeldeten Verstorbenen hatte 10 noch nicht überschritten. In diesen Tagen liegen die gemeldeten Neuinfektionen wieder um die 300, bei täglichen Todesfällen von 25 bis 40. Der Trend scheint klar, der Peak von Corona ist in der Schweiz überschritten, die Neuinfektionen gehen zurück und mit ihr verzögert auch die Anzahl Verstorbener. Das sind die nackten Zahlen, doch was das Coronavirus mit den Menschen gemacht hat, ist eine ganz andere Geschichte. Der Beginn des Lockdowns war voll von Unsicherheiten und zeitweiligen Ängsten. Doch schon bald versuchte ich eine Strategie zu entwickeln, der ein Bauchgefühl innewohnte, aber vom Verstand geführt wurde: Homeoffice, generell wann immer möglich zu Hause bleiben, ein Abstand von zwei Metern, auch zu meinen Liebsten, die ich aber praktisch nie mehr sehe, sind Bestandteile davon.
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Niemand weiss genau Bescheid
Nun, fünf Wochen später, scheinen mir klare Entscheide, Pragmatismus und dabei dem Rat der Behörden und des BAG zu vertrauen, ein probates Mittel im Umgang mit dem Coronavirus zu sein. Doch ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Verunsicherung ist geblieben. Ich bin mir sicher, dass auch Epidemiologien und Regierungen nicht völlig davor gefeit sind. Anders ist es nicht zu erklären, wie weit die Entscheide und Massnahmen in den Ländern dieser Erde im Zusammenhang mit Corona auseinandergehen. So gilt in Frankreich beispielsweise eine Ausgangssperre bis am 11. Mai, während in Schweden noch immer kein strikter Lockdown herrscht, Schulen für kleine Kinder offen sind, ebenso Restaurants und die meisten Geschäfte. Das skandinavische Land setzt auf Durchseuchung und will, dass möglichst schnell eine möglichst hohe Immunität der Bevölkerung erreicht wird (Herdenimmunität). Der Epidemiologe Anders Tegnell verantwortet diese kontroverse Strategie. Und er scheint ganz darauf zu vertrauen, dass die Schweden Empfehlungen der Experten befolgen und selbstverantwortlich handeln. Bisher sind in Schweden keine Spitäler überlastet, die Anzahl bestätigter Coronafälle liegt – Stand Sonntag, 19. April, – bei knapp 14’400 und gestorben sind bisher gut 1500 Personen.
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Schweden ist nicht die Schweiz
Das Beispiel Schweden bringt mich ins Grübeln. Bisher ist der Bundesrat in typisch schweizerischer Manier ruhig, sachlich und schrittweise mit Corona umgegangen und hat gleichzeitig unföderalistisch, aber gerechtfertigt, die Zügel fest in der Hand gehalten. Das Land bewegt sich irgendwo in der Mitte zwischen Frankreich und Schweden. Dass die Schweiz so gehandelt hat, muss man im damaligen Kontext verstehen. Wir waren schnell und stark mit dem Virus konfrontiert worden durch die Nähe zum Hotspot Norditalien. Deshalb ist Schweden nicht die Schweiz, auch wenn die beiden Länder weltweit immer mal wieder miteinander verwechselt werden.
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Ein Hochseiltanz
Der Bundesrat tanzt auf dem Hochseil, hat weite Teile der Wirtschaft ausgehebelt, die er aber – wieder einmal kommt der (monetäre) Reichtum der Schweiz deutlich zum Vorschein – mit umfangreichen finanziellen Massnahmen stützt. Und nun folgt ab dem 27. April das Experiment – und nichts anderes ist es – der schrittweisen Rückkehr zur Normalität und beruhigt gegenwärtig die einen und verärgert die anderen.
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Paradoxon des weniger-Wissen-Wollens
Nun beginne ich einen Artikel zu lesen, der sich um die Frage dreht, ob sich Jogger und Velofahrer einem höheren Risiko aussetzen, infiziert zu werden, weil sie schnaufend und keuchend viel mehr Tröpfchen aussondern, die eine Zeit lang in der Luft schweben. «Ist das nicht gefährlich?», lese ich, gefolgt vom Satz, dass leider kaum gute Daten vorlägen. Mit den Resultaten einer simultativen Studien werden dann einige Vermutungen angestellt. Warum soll ich das lesen? Weil Medien einfach möglichst viel über Corona schreiben müssen, wegen dem aussergewöhnlich hohen öffentlichen Interesse? Für mich ist schon länger klar: Zu viele Informationen vernebeln den Geist und verunsichern mehr, als dass sie etwas bringen. Gerade, weil rund um das Coronavirus noch so viel unklar und wissenschaftlich nicht erhärtet ist. Deshalb klicke ich wieder weg. Wissen ist grundsätzlich hilfreich. Nicht aber, wenn jeder etwas anderes oder gar nichts Substanzielles sagt.
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Auch Angst steckt an
Ich habe in diesen Coronazeiten schon vieles an GefĂĽhlen und Gedanken durchlebt, vom rigorosen Franzosen in mir, der vom Bundesrat mindestens so weitreichende Massnahmen verlangte wie das Tessin beschlossen hatte, bis zum Schweden, der den Menschen und ihrem selbstverantwortlichen Handeln voll vertraut und das öffentliche Leben und die Wirtschaft so weit als möglich laufen lässt. Meist aber setzte sich der Schweizer in mir durch, der sich zum persönlichen Seiltanz entschied zwischen RĂĽcksichtnahme auf die Mitmenschen, sehr zurĂĽckhaltenden sozialen Kontakten mit gleichwohl ausreichender Lebensqualität. Mittlerweile habe ich mich ein StĂĽck weit an die «ausserordentliche Lage» gewöhnt und vermehrt macht sich auch der Schwede in mir bemerkbar. Man muss auf lange Sicht mit Corona auskommen und da kann man allzu starke Einschränkungen gar nicht durchziehen. Hat sich die Staatengemeinschaft gar psychologisch mit Angst angesteckt, als die viele Schreckensmeldungen kamen und die WHO die Pandemie ausrief? Aber was ist, wenn sich der schwedische Weg doch als falsch herausstellt oder eine zweite Welle die Schweiz heimsuchen sollte? Die Verunsicherung ist also nach wie vor da. Ich muss sie akzeptieren. Das Schlingern und Straucheln von Menschen und ganzer Staaten ist ein guter Beleg dafĂĽr, dass dies Menschen schwerfallen kann. Diese Spezies ist aber auch eine adaptive Meisterin, eine Arrangeurin, die sich kognitiv Einstellungen zurechtlegen kann, damit das Handeln daraus leichter fällt.Â
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Von der Wiege zur Bahre
Ich schaue hinaus auf die blütenbehangenen Bäume, die sonnendurchflutete Natur und auf den blauen Himmel mit einem feinen Schleier von Cirrenwolken. Das ist ein Himmel, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Kein einziger Kondensstreifen durchschneidet das weisslich angehauchte Hellblau. Darf ich mich beim Coronavirus dafür bedanken? Auf jeden Fall schadet mehr grundlegende Achtsamkeit in diesen Tagen nicht. Die Blütenbäume werden Früchte tragen, egal, wie sich Pandemie weiterentwickelt.
Ob nun die Schweden recht behalten, die Schweizer sich am Ende auf die Schulter klopfen können oder die Franzosen frohlocken, spielt an sich gar keine Rolle. Es sei ihnen allen gegönnt. Es mag etwas zynisch klingen, doch Corona führt einem wieder mal vor Augen: Menschen können sterben. Mit der Geburt beginnt ein Weg, der mit dem Tod endet. Und dazwischen liegt eine ganze Palette an Unplanbarkeiten, an emotionalen Achterbahnfahrten und Gefühlsexplosionen. Schön ist, wenn es trotz allem gelingt, darin eine Pracht zu erkennen und jeden Tag wertzuschätzen. Wie den Cirrenhimmel ohne Kondensstreifen. Willkommen im Leben.
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